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// Poesie − ein immer befremdlicheres Wort. Vom Zweck entbunden, lebt Poesie in unserer heutigen Gesellschaft ein fast unberücksichtigtes Dasein. Vom ehemaligen gesellschaftlichen Begleiter zum geräuschlosen Archivierer, dessen lyrische Erfassung zunehmend schwindet. Davon unbeeindruckt besteht und entsteht Poesie. Unterschiedlichste Poesie.

Einige Gedichte greifen, zum Beispiel, auf die verwaiste kulturelle Voraussetzung zurück − auf die Beschwörung von nicht-menschlichen Wesen, in der die Poesie ihren Ursprung fand. Doch wer glaubt, in der gegenwärtigen Zeit, noch an Anrufungen, die für Götter und Geister bestimmt sind? An deren Zauberkraft? An deren Wirksamkeit? Nichtsdestotrotz tun eben diese Gedichte so, als bestünde die Voraussetzung noch, und beheimaten dadurch die unverkennbare lyrische Geistersprache in der Gegenwart. 
Andere Gedichte wenden sich bewusst gegen formale lyrische Eigenschaften. Sie unterliegen keinem Reim, keiner Wiederholung, keinem Rhythmus, keiner Melodie − also nichts, was einem Gedicht eine greifbare Wirkung und Bedeutung verleiht. Indessen eine Reduktion auf das poetische Wesen − auf Sprache. Auf eine Aneinanderreihung von Worten, welche vor Bedeutungen nur so strotzen. Ein verrätseltes Wortgeflecht, das zur Entschlüsselung geradezu herausfordert. Wir als Leser sind immer auf der Suche nach dem schöpferischen Sinn. Unser Werkzeug: das Interpretieren. Doch während wir uns auf die Suche begeben, immer fokussiert auf eine Erklärung, übergehen wir die lyrische Wirkung. Doch ein Gedicht verlangt nicht analysiert zu werden. Wir müssen nur wagen zu genießen und zu schweigen. Poesie als Unterhaltung anzusehen.

Unterhaltung, das deklarieren viele Lyrik-Liebhaber als den sterblichen Teil der Poesie. Weil sie darunter einen flüchtigen Augenblick des Genusses verstehen, der keinem Sterben und keinem Nachdruck unterliegt. Dem gegenübergestellt, ist Unterhaltung Vergnügen. Vergnügen, das der Betrachter zunächst einmal in sich wirken lässt. Das den Betrachter ergreift, das den Betrachter übermannt. Ein Vergnügen, welches sich erst zu einem späteren Zeitpunkt der subjektiven Interpretation anbietet. Zu einem Zeitpunkt, in dem der Betrachter die lyrische Wirkung vernommen hat. Zu einem Zeitpunkt, in dem die lyrische Wirkung den Anfang aller Interpretation darstellt. Nur zu diesem Zeitpunkt unterliegt das Gedicht dem eigenständigen Fantasiegebilde jedes Menschen. Die Frage Was uns der Dichter damit nur wieder sagen will verstummt im Stillen. Wir als Leser im selbstbezogenen lyrischen Bann. Das Gedicht dabei ein autonomes Kunstwerk, unabhängig von jeglicher Verbindung zum einstigen Schöpfer.

Eine verlockende Eigenständigkeit, die ein Gedicht gleichsam überzieht. Das Vergnügen dabei − ein Instrument, um ein Gedicht zu eröffnen. Die darauf beginnende Interpretation − ein Instrument, um ein Gedicht gedanklich aufzunehmen, auszudehnen, neu zu formen. Der Auftakt für eine Wandlung, die sich dank individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen, feinen poetischen Nuancen, subtilen Beziehungen und der Identifizierung von Symbolen stets lebendig zeigt. Die anfängliche lyrische Begegnung − nun ein nimmermüder Weggefährte. Der offenlegt, der verdeutlicht, dass wir uns in einem Prozess befinden. Einem Prozess, der es zulässt − ja geradezu befürwortet − ab und an Gedanken zu verwerfen, wodurch neue entstehen.

Ein In-sich-Wandeln, eine Selbst-Verständlichkeit, die es zu erobern gilt. Poesie ist Wort für Wort ein Sprachbild − Bild für Bild ein Sprachwort. Bild für Bild, Wort an Wort ein experimentelles Gedankenspiel. Die Vielfalt der Gedankengänge eine Wohltat. Alles ist denkbar.

da her Gedichte