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Unter dem Begriff Habitus ist im Duden unter anderem folgendes nachzuschlagen: »[auf einer bestimmten Grundeinstellung aufgebautes, erworbenes] Auftreten; Haltung, Benehmen, Gebaren.«¹ Doch wer definiert diese bestimmte Grundeinstellung? Wir als subjektive Wesen? Nein, wir als Gesellschaft. Jeder von uns ist eine der Spielfiguren im gesellschaftlichen Spiel. Wir verfolgen die Spielregeln wie selbstverständlich. Wir fragen nicht, wir handeln – wir spielen. Und während wir spielen, befolgen wir die Normen, die willkürlich entstanden sind. Beurteilen mit Hilfe willkürlicher Regeln – Kunst. Doch diese willkürlichen Regeln bekommen ihre Berechtigung, indem wir ihnen eine Selbstverständlichkeit zueignen. Dieser Selbstverständlichkeit ist es zu verdanken, dass wir intuitiv den herangezogenen Geschmack vor unser subjektives Empfinden stellen. So auch bei einer Konfrontation mit Kunst. Wir begegnen dieser mit unserem verinnerlichtem Erziehungsprogramm der deutschen Ästhetik – das eigene Empfinden ungehört, verschollen. Warum wir so agieren? – Gruppenzugehörigkeit. Wir wollen durch unser Handeln unsere Angehörigkeit zu einer bestimmten Schicht kundtun.

Wir Deutschen haben einen bestimmten Umgang mit Kunst und somit auch einen bestimmten Umgang mit Menschen, die sich mit Kunst auseinandersetzen. Unserem Habitus ist es geschuldet, dass wir diesen Menschen mittels Vorurteilen und Schubladendenken bestimmte Attribute zuschreiben. Der deutsche Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich äußert sich dazu wie folgt: »Wer sich mit Kunst umgibt, kann darauf spekulieren, seinerseits als besonders kultiviert, gebildet und menschlich zu erscheinen.«² Kultiviert, gebildet und menschlich; Attribute, die wir Menschen zuschreiben, nur weil sie Kunst konsumieren. Dieser Aspekt verdeutlicht uns die enorme gesellschaftlich etablierte Wertschätzung von Kunst und wie einfach diese Wertschätzung übertragbar ist. Übertragbar auf Menschen, die vielleicht alles andere als kultiviert, gebildet und menschlich sind. Denn obwohl unser Habitus zum größten Teil ein unsichtbares Dasein führt, tritt er ab und an in den Vordergrund. Immer dann, wenn Menschen bewusst natürliche Verhaltensweisen von anderen gesellschaftlichen Schichten übernehmen zu versuchen. Der Habitus bietet uns dafür einen nahrhaften Boden, denn er unterliegt einem Klassifikationsschema, das sich zum einem in unserem Verhalten widerspiegelt. Der Imitator versucht, mittels gespielten Verhaltens in eine andere Schicht zu wechseln. Das Ziel: Wer Namen berühmter Künstler kennt, wer Kunst zuhause hat – der wird geschätzt. Gesellschaftlich geschätzt. Aber warum nur diese Wertschätzung? Etwa weil man sich mit etwas beschäftigt – nein, weil man Zeit hat sich mit etwas zu beschäftigen. Kunst ist für den Konsumenten nicht existenziell. Sich Kunst widmen zu können, heißt Zeit verzehren. Zeit mit einem Thema zu verbringen, was ebenso umfassend wie frei interpretierbar ist. Wodurch sich Zeit in Geduld umwandelt. Grenzen wir den Bereich der Kunst ein, um diesen Gedanken vertiefen zu können. Konzentrieren wir uns auf die Kunstgattung der schöne Literatur. Ein Gedicht fordert, laut gesellschaftlich-pädagogischem Denken, auch Zeit und Geduld. Zeit und Geduld, die nun die eben genannte Schicht aufbringen kann. Kann folglich daraus der Schluss gezogen werden, dass Lyrik nur von einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht gelesen werden kann? Unterschiedliche Rezeptionsverhalten sind auf jeden Fall vorhanden. Während die ungewöhnliche Form eines Gedichtes bei der erwähnten Schicht den Vorsatz anregt »[…] durch Interpretieren jenen unvernünftigen Aufwand poetischer Mittel auf eine vernünftige Aussage zurückzuführen«³. Begnügen sich andere gesellschaftliche Schichten damit »[…] ein Gedicht zu lesen oder herzusagen, wie man ein Lied singt, […]«³. Grundlegend unterschiedlich – aber immer noch zwei Leseverhalten. Gedichte werden in jeder Schicht gelesen, nur unterliegen diesen Leseverhalten unterschiedlichen Wertungen. Wertungen, die wir erlernt haben. Während eine Person, die ein Gedicht mit Interpretation konfrontiert, große Anerkennung in der Gesellschaft erntet, genießen die anderen Schichten Lyrik im Privaten, Stillen, Unerkannten. Es ist nicht so, als könnten diese Personen in diesen Schichten nicht auch ein Gedicht interpretieren. Vielmehr lässt sich vermuten, dass diese Personen ein Gedicht nicht interpretieren wollen – weil es für ihre Gruppenzugehörigkeit nicht relevant ist. Ja, weil es sich für ihre Gruppe nicht gehört. Die Gedichtinterpretation wird mit einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Schicht in Verbindung gebracht. Wenn man nicht von dieser Schicht stammt, wird das Interpretieren als Spielen, als Imitieren angesehen. Wodurch man sich der eigenen Gruppenangehörigkeit entzieht und missachtend mit Aussagen wie Streber, Akademiker betitelt wird. Die strafenden Aussagen erklingen, weil sich eine Person hervorhebt, durch zum Beispiel anderes Verhalten, wie ein Gedicht zu interpretieren, wodurch sich die Gruppenkonstellation verändert. Gruppenmitglieder fühlen sich angegriffen, weil die Person, die interpretiert, intellektueller wirkt als die restlichen Gruppenangehörigen. Es entsteht eine sich aneinander reibende Gruppendynamik. Doch für jede einzelne Person ist soziales Agieren von enormer Bedeutsamkeit. Wodurch die Person sich bemüht, dem gleichwertigen Fundament ihrer Schicht anzugehören und nicht hervorzustechen. Die Konsequenz – sie interpretiert nicht.

Interpretieren, das wäre eigenständig, geistig und rezipierend einem Gedicht gegenüber zu stehen. Doch unser Habitus gewährt nicht jedem, diese intensive lyrische Begegnung publik zu machen. Weil der deutsche Habitus Regeln beinhaltet. Regeln, die für die einen ein Auftakt sind, sich Lyrik zu widmen. Für die anderen – für die meisten – eine gesellschaftliche Verpflichtung, wie sie sich gegenüber Lyrik zu verhalten haben.

 

Auszug // Thesis zum Masterarbeit: Der sterbliche Teil der Poesie

 

1  Duden online, Habitus
2  Ullrich, Kunst und Geld, 147
3  Schlaffer, Geistersprache, 7